Die nebelverhangene Ebbe in meiner Seele
Zu Beginn meiner psychologischen Einzeltherapie war eine Hausaufgabe meiner Verhaltenstherapeutin, eine Lebenslinie aus belastenden Lebensereignissen“ zu erstellen. Diese Lebenslinie soll am Ende in Form einer Welle, die Auslöser meiner Depression ersichtlich machen. Wie so häufig lächelte ich meine Überforderung weg.
So schwer kann das ja nicht sein. Und so viel wird es auch nicht, beschränkt sich meine Sicht auf die Auslöser meiner Depression auf die Verluste und die chronischen Belastungen und sozialen Konflikte der letzten vier Jahre. Zum einen verkneife ich es mir seit Jahren tunlichst Trauer zuzulassen. Zum anderen weiß ich um mein recht weit gefächertes Spektrum, Gefühle zu erleben, alles was ich tue mit Herz und viel Leidenschaft anzugehen, darüber meine Grenzen zu überschreiten, zu ignorieren. Zu guter letzt bin ich nicht mehr wirklich in der Lage, meine Bedürfnisse zu formulieren, mich für sie einzusetzen und sie, bzw. mich mit dem Blick auf meine Bedürfnisse, durchzusetzen. So weit so gut, also Arschbacken zusammenkneifen und …
Mit weißem Blatt Papier und Bleistift, sitze ich am Fenster und versuche zu hören, was sich abspielt in mir. Nach gefühlten Stunden vor einer Skala von 1965 bis 2019 auf der X-Achse und einer Bewertungsskala von 0-10 auf der Y-Achse werde ich erfasst von einer gigantischen Welle, hineingezogen in eine unfassbare Strömung aus „belastenden Ereignissen“ nicht etwa der vergangenen vier Jahre, sondern meiner gelebten 5 Jahrzehnte.
Zunächst ergibt sich eine zackige Linie mit meinen Empfindungen zu den Zeiträumen der Erlebnisse. Später füge ich eine weitere Linie hinzu. Ich versuche mir ehrlich vor Augen zu führen, welche „Wertigkeit“ und welche Auswirkungen diese Ereignisse noch heute in meinem Leben und auf mein Handeln haben. Je tiefer ich in mich hinein höre, je mehr Inhalte ich den Lebenslinien beifüge, desto weiter zieht sich die gigantische Welle zurück. Wie durch Priele in einem Watt, läuft das Wasser zuryck. Überraschung, Erstaunen, Entsetzen, Trauer, Angst, Wut und Fassungslosigkeit gleichen jenem Schlick, der es Wattwanderern oftmals unmöglich macht, sicheren Fußes und genießend, voller Freude und Begeisterung, die sie umgebende Natur liebevoll und wertschätzend wahrzunehmen.
Meine letzten Emotionen laufen auf Grund und in der Seele machen sich eine weite Ebbe und schwerer Nebel breit. Mein großer Wunsch wieder zu meinem alten Ich zuryckzukehren, vernebelt in der Frage, wer ich denn wirklich war und wer ich ehrlich bin?
So schön der Blick, den die Ebbe freigibt auf die Schätze der Unterwasserwelt, auf Leben, auf Tang und Gräser, Muscheln und Krabben, Wattbewohner, Sandkristalle und Treibgut, so verwirrend und überfordernd all das, was sich hinter einem TROTZnebel erkennen lässt:
- Das Lachen und Lächeln, TROTZ depressiver niedergeschlagener Grundstimmung
- Die geflüsterte und gespielte Zustimmung, TROTZ hör- und spürbar lautestem NEIN von Körper und Seele.
- Der TeamMensch, TROTZ großer Sehnsucht nach Ruhe und Alleinesein
- Das kleine Theater und große Schauspiel, TROTZ Interessenverlust, Freudlosigkeit und diesem beherrschenden Gefühl der Gefühllosigkeit, dieser „inneren Ebbe“ und Leere und der damit vollzogene soziale Ryckzug.
- Die beinahe zwanghafte Ausstrahlung größter Kraft und Energie, TROTZ kaum vorhandenem Selbstwertgefühl, dem omnipräsenten Gefühl wertlos zu sein, den Selbstvorwürfen und –zweifeln, Schuldgefühlen
- Mein Rettungsring aus Vermeidungs- und Vertuschungsstrategien und situatives Ausweichen, der mich TROTZ Angst- und Panikattacken noch an einem kleinen Rest sozialen Lebens teilhaben lässt
- Die immer währende Erreichbarkeit und das offene Ohr für alle, TROTZ größter Erschöpfung, Ermüdung und kaum noch vorhandene Kraft und Antrieb
- Die enorme Mehrarbeit, all die Stunden freiwilliger Arbeit, TROTZ großer Konzentrationsprobleme, dem immer häufigeren Verlust meiner Denk- und Entscheidungsfähigkeit bis hin zur Verweigerung Entscheidungen zu treffen.
- Der nach außen gespielte Optimismus, TROTZ Zukunftsängsten und Sorgen.
- Das Rechtfertigen und Weglächeln meiner ungesunden Ernährung, TROTZ erheblicher Gewichtszunahme
- Meine stets fröhliche und glückliche Erscheinung, TROTZ größtem inneren Druck, Anspannung, Verspannung und Schmerzen
- Das Herunterspielen meiner großen Müdigkeit und das Belächeln meines immer stärker werdenden Schnarchens, TROTZ massiver Schlaf- und Durchschlafstörungen
- Die starke, reflektierte Frohnatur, TROTZ Hoffnungslosigkeit und Todeswünschen.
- Das Funktionieren, TROTZ nicht mehr Könnens und Wollens
- Das Einlassen auf das Leben, TROTZ wahnsinniger Verlustängste
So stellen sich auch nach dieser Hausaufgabe die Fragen nach möglichen Ryckwegen; ob, wann und wohin die Reise zum Ich geht oder zu welchem Ich.
Wechselnde Pfade,
Schatten und Licht,
Alles ist Gnade,
Fürchte Dich nicht.
Ich will Dir Feuerschiff sein bei grober See, in schwierigstem Fahrwasser voller Riffe und Untiefen, in allen Stürmen und schweren Wettern, die das Leben gerade im Übermaß über Dir zusammenbraut. Und wenn es auch gerade zugeht wie im Sturmtief über Skagerrak und Kattegat bin ich doch voll Hoffnung, daß Du wieder in ruhigere See kommst, auch mal wieder achterliche Winde Dir helfen, Fahrt aufzunehmen. Sch.. ßegal, wielange der Weg durch gefährliche Meerengen dauert, wir fahren da gemeinsam durch. Das Unterwasserschiff ist bei uns beiden verbeult. Das macht nichts, wir fahren trotzdem durch alle uns zugewiesenen Seegebiete und wir tun dies gemeinsam. Dabei ist es auch völlig wumpe, wielange es dauert, bis wir wieder zusammen in ein ruhigeres, tiefes Fahrwasser gelangen.
Sei gewiß, daß Du da nicht allein hindurchfahren mußt! Sei ganz lieb umärmelt von Deinem ollen, grauen Wolf!
Das hast Du wirklich schön formulirt, Wolf !